Vorschlag für ein politisches Projekt
Version 1.0/4.3, 12.05.2011
Misstrauen gegenüber ausländischen Akteuren, Problembewusstsein
Nebenziele, positive Nebeneffekte, weitere Betroffene
Praxisabgleich | Aspekte so eines Entwurfs
Durch die Erarbeitung eines konsensfähigen Leitfadens für die Organisation staatlicher Umbrüche sollen Revolutionen erfolgreicher und damit auch wahrscheinlicher werden.
Trotz aller berechtigten Begeisterung bringen politische Umbrüche auch ganz profane Probleme mit sich, die das Gelingen der Revolution – den Machtwechsel an sich und die Qualität des Ergebnisses – merklich beeinflussen, vielleicht sogar darüber entscheiden, ob überhaupt ein merklicher revolutionärer Kern entsteht. Wenn eine Regierung gestürzt wird, muss irgendwann eine neue gewählt werden. Möglicherweise ist es nicht einmal praktikabel, den vorhandenen rechtlichen Rahmen dafür zu nutzen; etwa deshalb, weil dieser eine Wahl innerhalb einer zu kurzen Zeit vorschreibt (Beispiele: Tunesien, Ägypten).
In der Übergangszeit muss das Land irgendwie regiert werden; dass das nicht einfach ist, wenn nicht klar ist, wie der Zeitplan und das Ziel aussehen, sieht man an Tunesien und Ägypten gleichermaßen. Eine ähnlich fordernde Aufgabe ist die Vorbereitung von Wahlen – sei es für eine Regierung, sei es für eine verfassungsgebende Versammlung. So eine Wahl ist nur dann in einem umfassenden Sinn demokratisch, wenn sich vorher in ausreichender Menge Parteien konstituieren, ausrichten und präsentieren konnten. Dazu gehört eine freie und faire Presse. Ein Aspekt mit Seltenheitswert in der typischen gestürzten Diktatur. Kritisch ist auch die Verwaltung von Polizei und Armee, ganz zu schweigen von den Geheimdiensten; selbst Sicherheitskräfte, die den vom Volk ausgehenden Umsturz unterstützt haben, können zum Problem werden, wenn ihre Befugnisse zweifelhaft und ihre Führung kompromittiert sind, wie die systematischen Übergriffe der ägyptischen Armee zeigen. Für die Aufarbeitung einer Diktatur ist von großer Bedeutung, ob die Täter es schaffen, Unterlagen beiseite zu schaffen. Auch wirtschaftliche Aspekte sind von Bedeutung: Wer bezahlt die staatlichen Angestellten, wenn die Welt von morgen völlig unsicher ist. Gelingt es, das zusammengeklaute Vermögen der alten Machthaber sofort gegen einen Abzug ins Ausland zu sichern (oder dort einfrieren zu lassen)?
Dies sind keine rein akademischen Probleme. Die Erfolgsaussichten einer Revolution hängen natürlich davon ab, wie groß der Teil der Bevölkerung ist, der sich ihr anschließt. Ob sich jemand (vor allem die Eliten) einer revolutionären Bewegung anschließt, dürfte unter anderem erheblich davon abhängen, wer diese Bewegung anführt und welche (positiven) Ziele (in Abgrenzung zum konsensfähigen negativen Ziel Diktator XY muss weg!
) sie verfolgt. Indem man es einer solchen Bewegung erleichtert, sich schnell auf positive Ziele und die Prozesse dahin zu einigen, macht man sie schlagfertiger. Genau dieses Problem besteht gerade (oder bestand zumindest) in Libyen:
Die am Wochenende gebildete Übergangsregierung hat ein Legitimationsproblem: Einige der Aufständischen verweigern ihr die Gefolgschaft. Ein Teil von ihnen gründete in Bengasi einen libyschen Nationalrat. Auch andere Oppositionsgruppen wie die libysche Jugendbewegung halten die Bildung einer Übergangsregierung für verfrüht. (http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-02/libyen-gadhafi-gefechte)
Wenn sich mehrere Akteure (etwa Volks- oder Religionsgruppen) auf ein gemeinsames Vorgehen einigen müssen, besteht grundsätzlich das Problem, dass jeder Vorbehalte gegenüber Vorschlägen der anderen hat, weil er befürchtet, dass ein Ziel dieser Vorschläge ist, ihn zu übervorteilen.
Ganz praktisch besteht das Problem, dass zu bestimmten Zeitpunkten Entscheidungen getroffen werden müssen, so dass in der Regel die für Entscheidungen dieser Tragweite gebotene Bedenkzeit nicht zur Verfügung steht. Diese Spontanität beinhaltet das Risiko schlechter Kompromisse.
Der nahtlose Übergang einer Revolution in eine konstruktive politische Phase setzt voraus, dass alle relevanten Kräfte "stillhalten", den Prozess nicht stören. Das werden sie nur dann tun, wenn sie eine angemessene Perspektive haben und ihre Erwartungen nicht allzu schnell enttäuscht werden. Welch katastrophalen Folgen es haben kann, wenn relevante politische Kräfte den friedlichen Wandel hin zu einer demokratisch-kooperativen Ordnung hintertreiben, haben die Amerikaner schmerzlichst im Irak mit Muktada al-Sadr erfahren. Solche Saboteure haben um so leichteres Spiel, je weniger klar die gesellschaftliche Entwicklung ist. Je gefestigter der Konsens der Mehrheit über das weitere Vorgehen ist, desto schwieriger haben es solche Störfaktoren. Wenn ihre Erfolgsaussichten klein genug werden, sollten sie komplett stillhalten, um keinen einflussverlust durch ein verlorenes Kräftemessen zu riskieren.
Um es noch schlimmer zu machen: Natürlich stehen alle wichtigen Akteure einer Revolution unter hohem Druck. Sie haben auch nicht viel Zeit für Entscheidungen. Entscheidungen hoher Tragweite werden also unter sehr ungünstigen Bedingungen getroffen. Dass in so einer Situation alles in der gebotenen Weise durchdacht wird, ist wenig wahrscheinlich.
Das Vertrauensproblem besteht auch international, jedenfalls dann, wenn das Ausland eingreift, und sei es auf Grund einer UN-Resolution. Ein Land, das sich in einem Konflikt engagiert (oder das erst noch tun will), ist leicht dem Verdacht ausgesetzt, dies nicht aus altruistischen Gründen zu tun, was dann den Widerstand anderer Länder provozieren (und UN-Resolutionen verhindern) kann.
Das Problem wird zwar in der Berichterstattung zu konkreten Revolutionen angesprochen, aber die Möglichkeit einer systematischen Lösung (oder wenigstens Verringerung) des Problems im voraus ist zumindest in der allgemeinen Öffentlichkeit kein Thema. Das mag damit zusammenhängen, dass Revolutionen grundsätzlich wenig planbar erscheinen und individuell sehr unterschiedlich ablaufen.
Natürlich ist es diplomatisch hochproblematisch, auf eine Revolution in einem anderen Land hinzuarbeiten. Das ist hier aber nur indirekt der Fall; insbesondere ist der Vorschlag sehr allgemein und zielt nicht auf konkrete Länder ab.
Das Ziel dieses Vorschlags ist, zukünftige Revolutionen wahrscheinlicher zu machen und besser ablaufen zu lassen, indem administrative Vorarbeit geleistet wird, die die oben genannten Probleme entschärft: Eine fachlich geeignete und vertrauenswürdige (internationale) Institution soll einen (ggf. variablen) Entwurf für eine Übergangsverfassung erarbeiten (oder den von anderer Seite vorgebrachten Entwurf – ggf. modifiziert – absegnen), die in solchen Situationen zur Hand genommen werden kann und die oben genannten Probleme löst oder zumindest verringert.
Dadurch, dass es sich dabei um einen in aller Ruhe erarbeiteten, vielfach kommentierten und irgendwann womöglich auch erprobten Vorschlag handelt, sollte es den Akteuren einer Revolution relativ leicht fallen, sich darauf zu einigen.
Um die Übernahme dieses Entwurfs interessanter zu machen, könnte ein ganzes "Revolutionspaket" geschnürt werden, das zusätzlich zum juristischen Kern Hilfszusagen z.B. der EU enthält. Die EU könnte sich verpflichten, im Fall einer an dieser Übergangsverfassung orientierten Revolution den darin vorgesehenen Aufbau einer freien Presse und eines Parteiensystems zu finanzieren, Berater, Beobachter und Ausbilder zu schicken und in gewissem Umfang Bürgschaften zu übernehmen, damit das Staatswesen nicht kollabiert.
Der Westen könnte sogar finanziell von so einer Revolutionsorganisation profitieren, jedenfalls dann, wenn das betroffene Land ein wichtiger rohstoffexporteur ist. Ein Negativbeispiel sind Libyen und der Benzinpreis. Natürlich geht es dort nicht nur um eine politische, sondern zunächst vor allem um eine militärische Unsicherheit, aber auch eine weitgehend friedliche Revolution (wie in Tunesien und Ägypten) in einem bedeutenden Erdöl exportierenden Land würde an den Märkten eine erhebliche Unsicherheit auslösen, die eine mehr oder weniger drastische Preissteigerung zur Folge hätte. Ein allgemein akzeptierter Revolutionsplan würde diese Unsicherheit in großem Umfang verringern und damit auch die Preissteigerungen begrenzen.
Neben dem sachlichen Nutzen spielt natürlich der politische eine große Rolle. Es gibt zwei Möglichkeiten für eine Partei, diese Idee aufzugreifen:
Sie trägt die Idee in die Öffentlichkeit.
Sie bereitet einen Entwurf mehr oder weniger detailliert vor und geht dann mit diesem an die Öffentlichkeit.
Grundsätzlich dürfte eine substantiellere Forderung mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren. Außerdem ist es dann schwieriger für Kritiker, das Vorhaben allgemein zu zerreden. Da kein Zeitdruck besteht, sollte man sich ein paar Wochen Zeit nehmen, um zumindest auszuarbeiten, was alles regelungswürdig erscheint, und zumindest in manchen Punkten auch (durchaus alternative) Vorschläge erarbeiten.
Da es hier nicht um einen deutschen Alleingang geht, bietet es sich an, mit den Schwesterparteien in den anderen EU-Staaten in Kontakt zu treten. Der Vorschlag dürfte eine stärkere öffentliche Beachtung finden, wenn er zeitgleich in (fast) der ganzen EU präsentiert wird.
Sofern man davon ausgehen darf, dass die Vertraulichkeit gewahrt bleibt, mag es außerdem sinnvoll sein, an Oppositionsgruppen in potentiell betroffenen Ländern (bzw. deren Vertreter im EU-Exil) heranzutreten, um deren Meinung dazu einzuholen, was vielleicht sogar zu Verbesserungen des Entwurfs führt.
Es wären natürlich nur mehr oder weniger gewagte Interpretationen, aber zur Vermittlung des Nutzens dieses Projekts könnte man eine (sich an konkreten dortigen Problemen orientierende) seriöse Einschätzung versuchen, wie die Revolutionen in Tunesien, Ägypten und womöglich auch Libyen unter den angestrebten Umständen verlaufen wären.
Beispiele für Punkte, die so ein Entwurf regeln sollte:
Nach welcher Zeit werden Wahlen angestrebt? (Das sollte vom Entwicklungsstand des Landes abhängen, etwa der Alphabetisierung; Kriterien dafür sollten benannt werden.)
Was ist die Amtsperiode der ersten regulär gewählten Organe? In einer Phase des Umbruchs mag es angebracht sein, die erste Legislaturperiode zu verkürzen, weil die politische Willensbildung zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht gefestigt ist und das Gewicht dieser Wahl daher begrenzt ist.
Wann werden welche Übergangsgremien und -entscheider gewählt?
Innerhalb welcher Frist stellt das Ausland welche Hilfe bereit?
Innerhalb welcher Fristen müssen welche Vorleistungen (z.B. Wahlen, Ankündigungen, Garantie von Rechten, Zulassen von freier Presse, Parteien, ausländischen Beobachtern) erbracht worden sein, um Anspruch auf die einzelnen Leistungen des Auslands zu haben?
Welche Vermögenswerte müssen sofort gesichert werden?
Wie sorgt man dafür, dass der größte Teil der Bevölkerung schnell von diesem Zeitplan erfährt und seine Einhaltung kontrollieren kann?
Welche Rechte werden wem wann garantiert? Freizügigkeit könnte in einer Umbruchsphase problematisch sein, insbesondere bei Versorgungsproblemen.
Was ist mit der Kollision im Westen als unverzichtbar geltender Rechte mit religiösen oder traditionellen Vorstellungen? Siehe die krassen Fehlleistungen beim Versuch, in Afghanistan einen Rechtsstaat zu konstituieren. Schlagartig gravierende kulturelle Änderungen einzufordern, mag eine sowieso schon heikle Situation weiter destabilisieren. Es mag daher sinnvoll sein, die vollen Bürgerrechte erst nach und nach zu gewähren.
In Ländern mit ethnischen oder religiösen Konflikten (siehe die Erfahrungen in Irak) mag es sinnvoll sein, die Meinungsfreiheit im Kern sofort zu gewähren, aber diskreditierende Äußerung, die in die Richtung von Volksverhetzung gehen, scharf zu sanktionieren, um zu verhindern, dass von verantwortungslosen Elementen am Pulverfass noch gezündelt wird. Die Messlatte für die Strafbarkeit wäre bis zur Stabilisierung des politischen Systems viel niedriger als am Ende der Staatsgestaltung.
Soziale Sicherung: Gerade die Ärmsten drohen in einer Umbruchsphase unter die Räder zu kommen. Allerdings kommt aus praktischen Gründen für eine Existenzsicherung vieler Menschen wohl nur das Ausland in Frage. Zur Missbrauchsverhinderung (Korruption) mag man für die ausländischen Helfer ein hohes Maß an Autonomie durchsetzen.
Was muss eine verfassungsgebende Versammlung alles bis zu den ersten regulären Wahlen entscheiden, was kann auch später festgelegt werden?
In welchem Rahmen kann die verfassungsgebende Versammlung frei entscheiden, was wird ihr vorgegeben?
Welche Entscheidungen kann die verfassungsgebende Versammlung selber treffen, welche müssen durch Volksentscheid (Ja-nein-Entscheid oder Alternativen) bestätigt werden?
Wie geht man mit einer denkbaren (und vielfach geforderten) Aufteilung des Landes um, etwa bei Staaten mit klaren religiösen oder ethnischen inneren Grenzen, die durch die Kolonialmächte nach unbrauchbaren Kriterien geschaffen wurden?
Welche Ressourcen werden neu gegründeten Parteien zur Verfügung gestellt? Entscheidend sind wohl Räumlichkeiten und öffentliche Präsenz.
Lässt man jede Form von Partei zu, oder untersagt man für die Anfangszeit Parteien, die auf Grund ihrer Ausrichtung starke Spannungen erzeugen würden? Das träfe auf Parteien zu, die sich nicht an allgemeinen politischen Inhalten orientieren, sondern nur eine bestimmte Ethnie oder Religionsgruppe vertreten wollen, im Extremfall auf die Spaltung des Landes hinarbeiten.
Werden Minderheiten durch Quotierung geschützt? Gibt es eine Frauenquote?
Wie informiert man die Bevölkerung, insbesondere die Analphabeten, umfassend über die politischen Richtungen und Parteien? wie bereitet man eine Gesellschaft ohne jede demokratische Tradition und Erfahrung auf politischen Diskurs und freie Wahlen vor?
Schafft man eine föderale (Übergangs-)Struktur, indem man lokale Vertreter wählen lässt?
Wer übt in der Übergangszeit die Befehlsgewalt über die Polizei, die Streitkräfte, die Geheimdienste und die Verwaltung aus? Hier mag vor allem Transparenz gefordert sein.
Welche Rechte haben die Polizei, die Streitkräfte und die Geheimdienste? Letztere mag man übergangsweise komplett auflösen.
Wie soll eine Unrechtsjustiz in der Umbruchsphase funktionieren? Denkbar ist, sowohl in die Polizei-Führungsstrukturen als auch in die Justiz politisch unbelastete Bürgervertreter zu wählen (zur Kontrolle oder als Beteiligte, quasi Schöffen). Höherinstanzliche Gerichte mögen auch mit ausländischem Personal besetzt werden.
Verfolgung derjenigen, die unter dem gestürzten System schwere (politische) Verbrechen begangen haben. Denkbar ist eine Auslieferung an den internationalen Strafgerichtshof oder die EU. Falls sie nicht ausgeliefert werden: Nach welchem Recht sollen sie abgeurteilt werden? Dafür mag man nach oben und unten Grenzen ziehen.
Gibt der Westen Sicherheitsgarantien für das Land? Bei schwelenden Konflikten mit Nachbarstaaten mag die Situation eskalieren, weil diese Nachbarn versuchen die Situation zu nutzen, um in ihrem Sinne Tatsachen zu schaffen.
Es mag sinnvoll sein, die Verkleinerung überdimensionierter Streitkräfte vorzuschreiben.
Wer kontrolliert wichtige Unternehmen? Sofern es keine Staatsbetriebe sind, sind sie typischerweise unter der Kontrolle von Leuten, die mit dem gestürzten Regime eng verbandelt waren. Um nicht durch wirtschaftlichen Einfluss den Revolutionsprozess stören zu können, mag man wichtige Unternehmen vorübergehend enteignen und ein Verfahren vorsehen, wie später über die Eigentumsfragen und Entschädigungen entschieden wird.
Wie verhindert man, dass ausländische Unternehmen die Wirren des Umbruchs nutzen? Man mag Verkäufe großer Unternehmen oder Flächen sowie wichtiger Infrastruktur in der Übergangszeit untersagen, Konzessionen zeitlich befristen. Was ist mit den ausländischen Unternehmen, die schon im Land sind?