Vorschlag für eine politische Innovation

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Vermeidung des Fraktionszwangs durch neue Abstimmungsregeln

Version 1.0/4.0, 22.09.2009

Inhalt

ZusammenfassungÜbersicht

Die Abgeordneten sollen bürgernäher werden, indem man ihr Gewissen von der Bürde des Fraktionszwangs entlastet. Dies kann ohne Gefährdung der Regierungsfähigkeit erreicht werden, indem die überwältigende Mehrheit innerhalb einer Fraktion als einstimmige Fraktionsentscheidung gezählt wird.

Ausgangslage – das ProblemÜbersicht

Obwohl Direktmandate fast die Hälfte des Bundestags ausmachen, erleben die meisten Bürger Politik nicht als bürgernah, sondern als abgehoben. Verantwortlich für das schlechte Image der Politik – und damit auch der Politiker – ist ein ganzes Bündel von Gründen. Einer der wesentlichen Gründe dürfte sein, dass jedenfalls die normalen Abgeordneten kaum als individuelle Persönlichkeiten wahrgenommen werden, weil ihr entscheidendes politisches Wirken – Wie stimmen sie ab? – aus Sicht des Bürgers im voraus feststeht: Der Abgeordnete stimmt so ab, wie es ihm seine Fraktion vorgibt. Ausnahmen sind selten und zumeist stressig.

Dafür gibt es das unschöne Wort Fraktionszwang, manchmal verharmlost zu Fraktionsdisziplin. Wie kann der Bürger darauf hoffen, eine politische Frage sachgerecht, also ergebnisoffen, mit einem Abgeordneten zu diskutieren, wenn doch faktisch klar ist, wie der Abgeordnete am Ende abstimmt? Dadurch verkommen die gewählten Vertreter aus Sicht der Bürger leicht zu hochbezahlten Politikverkäufern.

Wenn sich dieser Mangel beseitigen ließe, wäre vor allem die Auswahl zwischen Direktkandidaten für die Wähler deutlich gehaltvoller. Man könnte nicht mehr im wesentlichen den Kandidaten mit seiner Partei gleichsetzen, sondern müsste sich für einen umfassenden Eindruck mit seinem konkreten bisherigen politischen Wirken und seinen Ansichten auseinandersetzen. Dadurch würden sowohl das Direktmandat als auch der Wähler aufgewertet.

Problembewusstsein

In vielen Kleistparteien, aktuell etwa der Piratenpartei, spielt die Forderung nach Abschaffung des Fraktionszwangs eine Rolle. Dieser Aspekt der politischen Realität ist bei den Bürgern schlecht angesehen. Diese Forderungen kranken allerdings daran, dass sie das zugrunde liegende Problem nicht lösen.

bisherige Rechtfertigung

Der Fraktionszwang besteht nicht deshalb, weil die Parteien ein Egoproblem haben, weil Abweichler schlechte Presse brächten. Er ist das Resultat der praktischen Notwendigkeit, verlässlich eine Mehrheit für die Regierungsprojekte zusammenzubekommen. Unerklärlicherweise ist das Gewissensproblem bei Abstimmungen nämlich sehr asymmetrisch: Es tritt immer nur bei den Regierungsfraktionen auf. Oppositionsabgeordnete können es anscheinend immer mit ihrem Gewissen vereinbaren, einem Gesetz nicht zuzustimmen.

praktische Probleme

Inzwischen hat sich fast die gesamte Bundesrepublik in eine Fünf-Parteien-Landschaft verwandelt. Neben dem in der Öffentlichkeit sehr präsenten Problem der Koalitionsbildung folgt daraus ein zweites, kaum beachtetes: Abgesehen von einer großen Koalition wird es viel öfter nur noch knappe Mehrheiten geben. Wie man derzeit in Thüringen sehen kann, reicht eine Mehrheit – nach Einschätzung derjenigen, die sie haben – an sich noch nicht aus, weil sie womöglich nicht ausreichend groß erscheint. Dadurch wird die Regierungsbildung schwerer und hin zu der großen Koalition verschoben, die nach den Äußerungen aller Beteiligten domokratiehygienisch bedenklich ist. Ist es erstrebenswert, ist es hinnehmbar, dass vorhandene Mehrheiten an praktischen Überlegungen scheitern, nicht einmal eine Chance bekommen? Guido Westerwelle lässt jetzt – kurz vor der Bundestagswahl 2009 – jeden, der es hören möchte, wissen, dass Schwarz-Gelb auch mit einer Stimme Mehrheit regieren werde. Meint er das ernst? Allein in der laufenden Legislaturperiode hat die CDU/CSU-Fraktion vier Abgeordnete verloren.

ZielÜbersicht

Es gibt eine einfache Lösung des Problems, wenn man sich auch formal von der abwegigen Vorstellung verabschiedet, dass im Bundestag "irgendeine Mehrheit" von Abgeordneten etwas beschließt, sondern auch gesetzlich davon ausgeht, dass im Bundestag in erster Linie Fraktionen abstimmen. Die zweite Prämisse, die man anerkennen muss, ist, dass es wegen der genannten Gewissensasymmetrie nicht geboten erscheint, für jeden Beschluss die Mehrheit der realen Stimmen zu fordern.

UmsetzungÜbersicht

Realisierung

Für die meisten Abstimmungen (etwa Wahlen ausgenommen) sollte ein Zustimmungsquorum festgelegt werden, bei dessen Erreichen die Fraktion in voller (anwesender oder sogar maximaler, siehe unten) Stärke gezählt wird und nicht nur die konkreten Stimmen. Das Quorum könnte so aussehen, dass 85% der Anwesenden zustimmen müssen und maximal 5% dagegen stimmen dürfen. Dadurch würde die Unterscheidung von Gegenstimme und Enthaltung aufgewertet. Der Abgeordnete könnte sich entscheiden, ob er nur die Zustimmung verweigert, sich aber damit einer großen Fraktionsmehrheit unterwirft, oder ob er selbst das inakzeptabel findet und die Vorlage dadurch mit deutlich weniger Gleichgesinnten zu Fall bringen kann.

Beispiele
Mehrheit dagegen Enthaltungen Blockzählung
85% 5% 10% ja
85% 10% 5% nein
94% 6% 0% nein
79% 0% 21% nein

Konsequenzen

Mit folgenden positiven Effekten ist zu rechnen:

  1. Das Regieren wäre stressfreier, weil einzelne wackelnde Abgeordnete nicht gleich das aus für eine Gesetzesvorlage bedeuten. Dadurch wären dann auch Koalitionen möglich, auf die man sich heute nicht einlässt, weil man die knappe Mehrheit als unsicher empfindet.

    Es wird zudem die Situation vermieden, dass quasi der Schwanz mit dem Hund wedelt, weil ein einzelner Abgeordneter meint, seinen 300 Kollegen erklären zu können, wo es langgeht.

  2. Da durch einzelne Abweichler nicht mehr so viel auf der Kippe steht, nimmt der Druck auf die Abgeordneten drastisch ab, entsprechend der Fraktionsmehrheit abzustimmen. Es werden also viel häufiger Abgeordnete ihrem (persönlichen, nicht ihrem Polit-)Gewissen folgen und anders abstimmen als ihre Fraktionsmehrheit. Das wird die politische Kultur, den Umgang mit Abweichlern, insgesamt positiv verändern, weil Abweichen dann nicht mehr den Ruch der Sabotage hat, sondern den einer ehrlichen politischen Auseinandersetzung. Wenn das gelegentlich dazu führt, dass das Quorum nicht erreicht wird und die Vorlage deshalb durchfällt, ist das völlig in Ordnung, weil es ihr dann offenbar an dem Rückhalt in der Fraktion mangelt, den man erwarten darf.

    Und natürlich kann auch das Wunder geschehen, dass die Opposition den Sinn eines Abgeordnetengewissens entdeckt, weil es plötzlich nicht mehr "erforderlich" ist, geschlossen dagegen zu stimmen.

  3. Die einzelnen Abgeordneten werden wahrscheinlich als bürgernäher wahrgenommen. Wenn nein und Enthaltung reale Optionen sind, dann lohnt es sich, mit einem Abgeordneten über den richtigen Weg zu diskutieren. Bisher muss man leider erwarten, dass einem nur "erklärt" wird, weshalb der Kanzler/Minister/Parteichef/Fraktionsvorsitzende wider Erwarten recht hat.

  4. Das Gewicht eines Abgeordneten – gemessen an seiner Möglichkeit, eine Vorlage (gemeinsam mit anderen) durchfallen zu lassen – wäre nicht mehr vom Zufall abhängig, wie es heute der Fall ist. Ob eine Fraktion sich zwei, vier oder zehn Abweichler erlauben kann, ist im Moment nur vom zufälligen Wahlergebnis abhängig. Das politische Gewicht eines Abgeordneten sollte aber keine Frage des Zufalls sein.

    In dem von mir angedachten Szenario wäre dieses Gewicht immer etwa gleich, nämlich bei 5%/15% für Gegenstimmen/Enthaltungen.

keine Schwächung der Stellung des Abgeordneten

Auf den ersten Blick erscheint es so, dass die Stellung eines Abgeordneten dadurch untergraben wird. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Seine Handlungsmöglichkeiten werden (bezogen auf die Folgen) erweitert:

  1. Enthaltung

    Der Abgeordnete will nur zum Ausdruck bringen, dass er dem Gesetz nicht zustimmt. Er akzeptiert, dass er leicht (kleines Quorum gegen Enthaltungen) überstimmt wird.

  2. Gegenstimme

    Der Abgeordnete will deutlich zum Ausdruck bringen, dass er dem Gesetz nicht zustimmt. Er akzeptiert nicht, dass er leicht überstimmt wird, beugt sich aber der überwältigenden Mehrheit der Fraktion(sgemeinschaft) .

  3. Fraktionsaustritt

    Natürlich hat ein Abgeordneter nach wie vor die Möglichkeit, aus seiner Fraktion auszutreten, womit sie insgesamt an Stimmgewicht verlöre. Dieses Szenario entspricht der heutigen Situation, dass ein Abgeordneter bereit ist, eine Koalition platzen zu lassen, um seinen Willen durchzusetzen).

    Die Variante, dass er die Fraktion verlässt, entspricht aus mehreren Gründen besser einer demokratischen Kultur:

    1. Vermutlich ist zumeist bei Abweichlern nur das Bedürfnis vorhanden, einer Vorlage nicht zuzustimmen, nicht aber das, eine Koalition zu beenden; dass das droht, ist ein (nicht gewünschter) Nebeneffekt. Wenn es einem Abgeordeten nicht reicht, gegen eine Vorlage zu stimmen, wenn er nicht akzeptiert, dass es in aller Regel sowieso Zufall ist, ob seine Entscheidung Auswirkungen hat, sondern er unbedingt nachhaltigen Schaden anrichten will, dann ist es sachgerecht, wenn dieser Schaden primär bei ihm sichtbar wird. Wer die Solidarität mit seiner Fraktion derart aufkündigt, hat keinen Anspruch darauf, weiter Mitglied dieser Fraktion zu sein. Eine Gewissensentscheidung ist als solche zu akzeptieren; aber das bedeutet nicht, dass sie für denjenigen keine Folgen haben darf, zumal dieses Risiko beim Zerbrechen einer Koalition über Neuwahlen und die absehbare Nichtwiederaufstellung sowieso gegeben ist.

    2. Nicht die Fraktion hat die Koalition aufgekündigt, sondern ein einzelner Abgeordneter hat sich entschieden, seiner Fraktion nicht mehr zu folgen. Es kann durchaus sein, dass die Fraktionskoalitionen auch ohne diesen Abgeordneten immer noch eine Mehrheit haben. Ein Abgeordneter hat keinen politischen Anspruch darauf, über Wohl und Wehe einer Koalition zu entscheiden.

    3. Es wird ein Ausgleich zwischen der Eigenständigkeit des Abgeordneten und dem Wählerwillen erzeugt. Den meisten Wählern ist eine stabile Regierung wichtiger als der Einzelwille eines Abgeordneten. Der Austritt aus einer Fraktion ist politisch kaum zu begründen, ganz im Gegensatz zu einer Enthaltung oder Gegenstimme bei einer Einzelentscheidung. Selbst in Hessen, wo deswegen immerhin eine Regierung (im Vorfeld) gescheitert ist, haben die vier Abweichler weder Fraktion noch Partei verlassen (auf die Wahl des Ministerpräsidenten hätte sich dieser Vorschlag allerdings nicht ausgewirkt).

    4. In eine Fraktion kann man wiedereintreten (wenn die das möchte). Dieser Schaden ist sehr viel leichter zu beheben als eine beschädigte oder zerbrochene Koalition.

  4. Was in diesem Modell allerdings nicht funktioniert, ist die Kombination von Obstruktion und Anonymität. Wenn jemand aus einer Fraktion austritt, ist das offensichtlich. Allerdings ist das kein politisches Manko. Wie demokratisch ist es, dass jemand nur deshalb erneut aufgestellt wird, weil die Gremien seiner Partei nicht wissen, wie er abgestimmt hat?

Einwände, Anmerkungen und Bewertungen von DrittenÜbersicht

ErweiterungenÜbersicht

Erweiterung auf die absoluten Fraktionsgrößen

Wenn man nicht nur die Anwesenden, sondern (ggf. über ein (zusätzliches) Anwesenheitsquorum) die ganze Fraktionsstärke zählt: Dem Parlament bleiben Lächerlichkeiten der Art erspart, dass der Ausgang einer Abstimmung davon abhängig ist, ob gerade Abgeordnete krank oder aus anderen Gründen an der Anwesenheit gehindert sind.

Sinnvoll wäre, die anwesenden Abgeordneten auf das Quorum der absoluten Fraktionsgröße umzurechnen. Wenn so viele anwesende Abgeordnete dafür stimmen, dass dies 80% der gesamten Fraktion entspricht, und höchstens 5% der anwesenden dagegen stimmen, dann wird bei der Blockzählung die gesamte Fraktionsgröße angesetzt.

Man könnte diese Regelung auch auf Angeordnete erweitern, die der Fraktion aus anderen Gründen als einem inhaltlich motivierten Austritt verlorengehen, etwa durch Ausscheiden aus der Politik, Gewinn eines Mandats im europäischen Parlament oder Tod, jeweils im Fall von Überhangmandaten (alles in der aktuellen Legislaturperiode vorgekommen). Dadurch ließe sich eine knappe Mehrheit halten, solange niemand bezielt die Fraktion verlässt.

Erweiterung auf Fraktionsgemeinschaften

Es ist außerdem zu überlegen, ob man (vor allem in kleinen Parlamenten) diese Zählweise nicht nur auf einzelne Fraktionen anwendet, sondern auf die Fraktionsgemeinschaft einer Koalition. Wenn man das nicht tut, handelt man sich durch die Rundungsprobleme (5% bei neun Abgeordneten) Probleme ein, die in der Sache nicht begründet sind.

Ein Marginalisierungsrisiko für kleine Koalitionsfraktionen entsteht dadurch nicht, weil auch eine kleine Fraktion immer mehr als 5% der Koalitionsstimmen hat. Der Form halber könnte aber die Fraktionsmehrheit dieses Verfahren für einzelne Abstimmungen aussetzen.

explizite Aufhebung des Fraktionszwangs

Bei besonderen politischen Entscheidungen, die nicht parteigebunden sind und für die bisher der inoffizielle Fraktionszwang offiziell aufgehoben wird, könnte man mit einfacher Mehrheit der Fraktion die Anwendung dieses Verfahrens aufheben, auch wenn das wegen des wahrscheinlichen Verfehlens des Quorums eher symbolische Bedeutung hat.

Und was denken Sie?Übersicht

Schreiben Sie mir, was Sie von den oben ausgeführten Überlegungen halten!

Wenn Sie Ihre Meinung über dieses Konzept (im Sinne einer Bewertung des Verfassers, der "Qualität" des Grundgedankens) maximal vereinfachend zusammenfassen, finden Sie es dann eher gut oder eher schlecht (unabhängig davon, ob sie glauben, dass die Details korrekt sind und es so insgesamt funktioniert)?

eher gut eher schlecht

Änderungen am Dokument und alte VersionenÜbersicht

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